Nr. 20

Barfuß im Minenfeld

aus »Reflux«, 2018

Berlin-Schöneberg, vierter Stock: Mit nacktem Oberkörper am offenen Fenster stehen, die Faust recken und ICH BIN DER GRÖSSTE! in den Hinterhof brüllen – das hatte Stil! Auch wenn die Welt da draußen kein Wort von Richard Hertzfelds Geschrei verstand und ihn bestimmt für endbescheuert hielt.

Der Fettsack aus dem Nachbarhaus, der unten im Garten stand und irgendwelches Gestrüpp mit einer Hacke bearbeitete, tippte prompt mit dem Finger gegen die Stirn, gestikulierte ungestüm und schrie kaum Verständliches, das sich Richard als »Völlig irre, oder was?« zusammenreimte.

Egal. Er hatte soeben in Versalien ENDE unter seinen Storyentwurf geschrieben und dann SPEICHERN aus dem Menü der Textverarbeitung gewählt, anschließend DRUCKEN. Das mußte gefeiert werden, so laut und unüberhörbar wie möglich. Er hatte es geschafft. Obwohl er zuletzt nicht mehr daran geglaubt hatte.

»Verdammt geiles Teil, mann-mann-mann«, sagte er zu sich selbst, nun eher verhalten.

Er schloß das Fenster und ließ sich wieder auf dem Drehstuhl nieder. Öffnete ein Bier, ein erster, kurzer Schluck. Dann zog er er die mittlerweile ausgedruckten Seiten aus dem Druckerfach, tackerte sie zusammen und zündete eine Zigarette an.

Richard begutachte eine Weile das Ergebnis seines kurzen Schreibrauschs und wandte sich schließlich doch wieder dem Monitor zu, scrollte noch einmal durch den Text. Tja. Noch massig Fehler drin, und hier und dort wackelte die Story, klar. Da mußte er noch mal ran. So ist das mit fix zusammengekloppten Geschichten, da schleichen sich gerne Konstruktionsfehler ein. Kriegst du aber in den Griff, Alter, kein Problem!

Immerhin, der Entwurf stand, jetzt hieß es, das Getippte hübsch ausarbeiten und einen richtigen Roman daraus zaubern. Ob sich Berger da wiedererkennen wird?, überlegte Richard. Bei mir heißt er ja Fickfrosch, hehe. Spuren verwischen ist alles!

Das war lustig, aber auch ’ne Scheißnummer. Gerne hätte Richard bis ins Details wahre Geschichten geschrieben, exakt so wie erlebt. ’Ne echte Biographie, seine eigene, nichts Zusammengefrickeltes. Mit Leuten, die so hießen, wie sie eben damals hießen. Aber das bekam er im Leben nicht hin.

Das fing ja schon bei Richards Punk-Namen an. »Hertzfeld ist ein Judenname«, hatte ihm Zwiebel mal erklärt und dann im breitesten Tegtmeier-Slang hinzugefügt: »Do bis ächt ’n Joooode!«

Von da an war er für alle nur »de Jode«, was Richard damals für total punk hielt. In der Gegenwart hätte er mit so einem Namen Ärger angezogen wie Scheiße die Fliegen. Und selbst das war ein Vergleich, den Richard lieber für sich behielt.

 

Daß das Buddeln in der Vergangenheit manch sicher entsorgte Leiche ans Tageslicht befördern konnte, hatte Richard das erste Mal zum fünfundsiebzigsten seines Vaters gerafft. Die ganze Familie gab sich die Klinke in die Hand, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Das war jetzt auch schon wieder ein paar Jahre her.

Richard durfte bei diesem Pflichttermin nicht fehlen und war mit dem ICE nach Duisburg gefahren, zumal er die Gelegenheit für einen Testlauf nutzen konnte. Er las der versammelten Verwandtschaft die eine und andere Textpassage aus dem geplanten Buch vor. Ein bißchen was hatte er ja schon geschrieben. Nichts Ausgegorenes, aber zum Vorlesen reichte es.

Lief auch bestens. Alle hörten gebannt zu, unterbrochen von allgemeinem Gelächter an pikanten Stellen. Anschließend stimmten sie überein, es von Anfang an gewußt zu haben. »Der Richard war ja schon als Kind ein echter Professor!« Jaja, die Brille …

Als er des Abends aus dem ehemaligen Kinderzimmer auf den Marktplatz hinunterblickte, kam Tina ins Zimmer.

»Hat sich alles ganz schön verändert, was?«, sagte seine Schwester. Sie war drei Jahre jünger als Richard, dafür wog sie das Doppelte. Das hing irgendwie mit dem Landleben zusammen, hatte sie mal erklärt.

»Ja«, stimmte Richard ihr zu und zeigte mit dem Finger aus dem Fenster. »Aber ›Beim Erwin‹ da drüben ist immer noch da. Papas Stammkneipe ist ein Fels deutscher Leitkultur im Türkenmeer. Bis der alte Erwin den Löffel abgibt, dann wird auch diese Lücke geschlossen.«

»Sag mal … dein Buch …« Tina suchte nach Worten.

»Was ist damit?«

»Wo willst du das denn veröffentlichen?«

»Weiß ich nicht. Erst mal fertigschreiben. Dann suche ich einen Verlag.«

»Also, wenn du mir einen Gefallen tun kannst … bitte laß das mit dem Pornoheft weg, das ich damals auf der Straße gefunden habe!«

Jetzt war’s raus. Schon klar. Wie gut, daß Richard nicht den Abschnitt über ihre Liebschaft mit Ali vorgelesen hatte. Dem smarten Türken aus der Dönerbude.

»In Ordnung. Vielleicht sollte ich dich besser ganz streichen. Hab ich eben keine Schwester.«

»Das ist gar nicht nötig. Aber du weißt doch, ich wohne auf dem Dorf. Wenn solche Sachen die Runde machen, dann gibt es ein Geschwätz, das ist kein Spaß. Das will ich nicht haben. Ich muß auch an die Kinder denken.«

Da war was dran. Tina war vor bald 20 Jahren in das gleiche Kaff gezogen, aus dem ihre Mutter weitere 30 Jahre zuvor geflüchtet war. Dort hatte Richards Schwester einen Bauern geheiratet und einen Stapel Kinder in die Welt gesetzt.

»Mach dir keinen Kopf«, sagte Richard und nahm Tina in den Arm. »Ich halte dich lieber ganz raus, ist das Beste.«

Er hielt die nachträgliche Abtreibung für kein allzu großes Problem. In seinem Buch sollte es ja um ganz andere Dinge gehen. Um Sex, Suff und Gewalt, um Anarchisten, Bullen und Nazis. Um die Welt, das Universum und natürlich Punk!

Klar, daß solche Schauergeschichten in Tinas Umfeld für ordentlich Gesprächsstoff gesorgt hätten. Dagegen war die Porno-Story ein lauer Furz. War also besser, wenn Tina draußen blieb.

 

Für den kommenden Tag stand ein Besuch bei Jens Wiebel auf dem Zettel. Der war 30 Jahre zuvor als »Zwiebel« durch Duisburg gerannt. Zuerst als Punk, dann wurde er wie so viele andere Skinhead. Als Richard ihn 1982 kennenlernte, war Zwiebel gerade sechzehn und frisch zur Glatze konvertiert.

»Mann, Jode … ich freu’ mich total, dich wiederzusehen«, begrüßte er Richard. »Ich kann’s kaum fassen, wie lange das her ist, daß wir die Stadt unsicher gemacht haben!«

Zwiebel war immer noch der Alte. Spontan, euphorisch, das Herz auf der Zunge, Pendelgang wie ein Boxer. Nur die Haare waren jetzt länger. Von dem auf die Glatze tätowierten Spinnennetz war nichts mehr zu sehen. Das »SKINS« auf der Innenseite der Unterlippe bekam eh keiner mit.

»Was machst du im Pott?«, fragte er.

»Ich schreibe ein Buch. Und weil ich zuviel vergessen habe, will ich mein Gedächtnis auffrischen. Das geht am besten, wenn man sich mit alten Freunden trifft.«

»Da sagst du was! Für mich war’s die geilste Zeit meines Lebens. Wir hatten ’ne Menge Spaß. Ständig war was los! Und wenn nicht, dann haben wir eben selbst für Angst und Schrecken gesorgt. Willst du was trinken?«

»Ein Bier, wenn du hast.«

»Klar. Hast dich nicht verändert, du und deine Liebe zu kühlen Blonden.«

Zwiebel verschwand in der Küche und kam mit zwei Flaschen zurück. Er öffnete sie, beide tranken. Schwiegen eine Weile. Dann setzte er erneut an.

»Irgendwann ’85 hatte ich echt die Schnauze voll. Die neuen Glatzen, die durchs Duisburg liefen, waren nur Scheiße. Es tauchten auch immer mehr Nazis auf, die auf Skin machten. Ich mußte da weg, bin nach Jamaika, hab mir die Haare wachsen lassen. Den ganzen Tag gekifft, dazu Reggae-Sound. Der war überall und hat mir gutgetan.«

»Habe ich von gehört. Aber so ganz unschuldig wart ihr nicht daran, daß die Nazis sich bei euch eingenistet haben.«

»Wie meinst du das?« Zwiebel war sichtlich erstaunt.

»Weil ihr alle gegen Türken wart. Dazu dann Sachen wie ›Nigger-Nigger-Nigger, kiss my boots‹. Das Paki-Bashing in London habt ihr auch abgefeiert. Da konnte ich mir noch so sehr den Mund fusselig reden.«

»Aber das war doch nur Spaß!«

»Das hast du damals auch immer gesagt. Und daß du Anpassung total Scheiße fandest. Nur die Kanaken sollten sich anpassen.«

»Willst du jetzt sagen, wir waren Nazis? Du weißt doch genau, daß das nicht stimmt. Backs hat sogar mal ’nen NPD-Stand umgehauen.«

»Richtig. Aber da war er noch Punk. Und hast du vergessen, wie Keks und Rüdi bei der NPD-Veranstaltung aufgekreuzt sind?«

Zwiebel war mittlerweile aufgestanden. Er war sichtlich aufgebracht und unterstrich jeden seiner Sätze mit wilden Gesten.

»Aber nur, weil sie neugierig waren. Die wollten doch gar nicht bei denen mitmachen. Außerdem fanden sie es geil, wie sich die Hippies wegen so was aufregten.«

»Mag ja sein. Aber die meisten von euch träumten davon, als Working-Class-Sturmtrupp durch die Gegend zu laufen«, erinnerte ihn Richard. »Als SA für Unpolitische. Ihr wolltet auf der einen Seite mit Politik nichts am Hut haben. Auf der anderen Seite dieser ganze Kram mit Vaterlandsliebe, Deutschlandflaggen, Türken raus. Ich weiß noch, wie du mir gesagt hast. ›Ich bin kein Nazi, ich habe doch nichts gegen Juden, ich bin nur für Deutschland und finde Türken scheiße‹. Und damit habt ihr genau die Arschlöcher angezogen, die mit so einem Gequatsche eine handfeste politische Position verbinden. Und zwar ziemlich weit rechts. Deshalb habt ihr Mitverantwortung für die Leute, die nach euch kamen.«

Jetzt reichte es Zwiebel. »So was habe ich nie gesagt. Und was konnten wir dafür, daß irgendwelche Nazis Skins cool fanden? Du ziehst alles, was wir gemacht haben, in den Dreck. Das war schon damals so. Ständig hast du mich mit Politik vollgelabert, daran kann ich mich noch gut erinnern.«

»Ja. Weil ihr gar nicht gemerkt habt, daß ihr total politisch wart.«

»Waren wir nicht. Wir waren einfach nur Skinheads! Das weißt du genau. Und ebenso, wie häufig wir schon als Punks von Türken auf die Fresse bekamen. «

Richard sah, wie Zwiebel unruhig die Flasche hin- und herbewegte. Am liebsten hätte er wohl was kaputtgeschlagen, konnte sich aber gerade noch beherrschen.

Dann blickte er Richard direkt in die Augen. Er hatte eine Entscheidung getroffen. »Ich will in deinem Buch nicht vorkommen«, sagte er. »Vergiß alles, was ich gesagt habe. Ich habe echt die Nase voll von dem Gelaber. Wenn wir Freunde bleiben wollen, dann schreib’ die Wahrheit. Oder gar nichts.«

Richard hatte verstanden. Nahm noch einen letzten Schluck und verabschiedete sich dann. Als er das Haus verließ und Zwiebel ihm durch das geschlossene Fenster nachwinkte, war klar, daß er sich entweder an Zwiebels Ansage hielt oder für alle Zeiten bei ihm ausgeschissen hatte.

Es war aber auch ein übles Dilemma mit der »Wahrheit«. Hatte wohl jeder seine eigene.

 

Ein paar Stunden später traf Richard auf Stephan. Der hieß Anfang der 80er nur Steff, war auch ’ne Glatze und trommelte bei Kampfbomber, der ersten und härtesten Skinhead-Band des Ruhrgebiets. Der Mann, mit dem Richard nun am Tisch saß, besaß die Ausstrahlung eines gereiften Familiendaddys, und genau das war er auch. Im Gegensatz zu Zwiebel sprach Steff offen darüber, wer welchen Dreck am Stecken hatte, und da nahm er sich selbst nicht aus. Er plauderte aus dem Nähkästchen und konnte erklären, warum Zwiebel so und nicht anders tickte.

»Der war doch erst 15, als er mit uns zum ersten Mal nach London rüber ist. Die ganze Szene dort hat ihn unglaublich beeindruckt. Uns alle. Erst bewunderten wir die englischen Punks, ein Jahr später Skinheads. Wie wollten wie die sein, echte Männer, nicht so ’ne Heuler wie die Punks. Und weil die englischen Skins den Union Jack auf der Bomberjacke trugen, brauchten wir Deutschlandfahnen. Pakistanis hatten wir nicht in Duisburg, also zogen wir über Türken her. Wir haben überhaupt nicht gepeilt, was wir damit anrichten. Und außerdem hatten wir ein reines Gewissen, weil uns eh ständig irgendwelche Türken-Prolls an den Kragen wollten.«

»Den Eindruck hatte ich damals auch,« stimmte Richard zu. »Ihr wart einfach nur verwirrt. Und das galt nicht nur für die Glatzen. Da war doch dieser Kiddie-Punk, der ganz stolz auf den Scheiß war, den er in einer Unterführung gesprüht hatte.«

»Davon habe ich nichts mitbekommen.«

»Der hat da ›Nazi-Punks fuck off - Ausländer raus!‹ an die Wand geschrieben. Den Titel eines Dead-Kennedys-Songs zusammen mit ’ner NPD-Parole.«

Die beiden lachten, bis die Tränen kamen.

»Mann, waren wir alle doof damals«, sagte Steff schließlich. »Hat aber trotzdem Spaß gemacht, was?«

»Ich wollt’s nicht missen!«

 

Richards Duisburg-Besuch hatte zu guter Letzt ein erfreuliches Ende genommen. Obwohl Steff ebenfalls auf die Streichliste mußte, das war klar. Richard hatte keinen Bock, irgendwelchen Spinnern Munition zu liefern. Solchen, die Steff auf Facebook und anderswo als »Nazi« anscheißen würden, weil er vor 30 Jahren Mist über Türken erzählt und einigen Polit-Hippies auf die Fresse gegeben hatte. »Nie vergeben, nie vergessen!«, das würden die selbsternannten Richter schreiben.

Die Sache wurde langsam kompliziert. Zumal Richard bereits kräftig für sein Buchprojekt getrommelt hatte. Wem alles mochten die Zähne klappern in Erwartung der Publikmachung längst vergessener Schandtaten? Bei Berger konnte er sich das gut vorstellen, wegen seines Tritts in Helgas schwangeren Bauch, ganz egal, daß Richard ihn zu »Fickfrosch« verfremdet hatte.

Mit Penne war’s auch schwierig: Rumms, und mit einem Schlag hatte der angebliche Nazi Pennes Faust im Gesicht und lag bewußtlos auf dem Boden. Schöner Schädelbruch mit Intensivstation, aber leider kein Nazi, sondern nur ein Gaffer. Dann dachte Richard an Rübe, der seiner Ratte mit einer Stecknadel beide Augen ausgestochen hatte. An Selbstverstümmelungen mit aufgerissenen Bierdosen. An Pulver-Partys, vollgeschissene Matratzen, Gaspistolen. Die Liste nahm kein Ende. Wie sollte Richard darüber schreiben, ohne alles bis zur Unkenntlichkeit zu verfälschen? Wer wollte so einen zusammengelogenen Mist denn lesen?

Und dann die Frauen. Durfte er über die Höllenqualen schreiben, die sie ihm bereitet hatten - und er ihnen? Über Sackratten nach One-Night-Stands, über Lügen und Intrigen, Vergewaltigungen, über prickelnde Punquetten, die sich im Lauf der Jahre in versoffene, aufgequollene Schabracken verwandelt hatten?

Welches Recht hatte er, in seinem Buch über das Leben anderer zu schreiben? Allerdings wäre ein Buch mit Geschichten, in denen nur eine einzige Figur - Richard! - vorkäme, auch nicht gerade Sympathiewerbung gewesen. »Ich, ich und nochmals ich – Meine Erlebnisse mit mir«, das wäre der passende Titel dafür. Und alle hätten nur über dem Joden sein übergroßes Ego gesprochen. Der in der Punk-Geschichte niemanden neben sich duldete.

 

Vielleicht nur über die Verblichenen schreiben?, sinnierte Richard weiter. Weil man denen nicht mehr schaden konnte? Der Punk-Friedhof war groß, kein Problem, sich da reichlich zu bedienen. Unzählige Punks hatten das Motto »Schneller leben« wörtlich genommen und sich der Selbstvernichtung verschrieben. Als der Rauch der Rebellion verweht war, geisterten viele Überlebende der Armee der Selbstmörder als bettelnde Wracks durch die Innenstädte und über Bauwagenplätze. Die Toten zählte schon lange keiner mehr. Wer hingegen die fünfzig überschritten hatte und immer noch gesund und munter durchs Leben schritt, mußte sich die Frage gefallen lassen, die ganze Punkerei vielleicht doch nur halbherzig betrieben zu haben.

Ein kleiner Testballon verdeutlichte Richard schnell, was für ein Minenfeld seine vermeintliche Lösung darstellte. Er hatte nämlich bei Facebook ein Foto von Schluckspecht gepostet, dem Sänger von Stahlhölle. Eines aus dem Jahr 1986. Da posierte Schluckspecht mit Hitlergruß, zusammen mit einem bekannten Nazi-Skin.

Der darauf folgende Shitstorm war nicht von schlechten Eltern: »Du feige Sau. Einen Toten mit Dreck zu beschmutzen, das traust du dich! Einen, der sich nicht mehr wehren kann! Schluckspecht war ein super Typ, aber du bist das Allerletzte!« Diese nette Mail lag eines Morgens in Richards Postfach, und bei Facebook wurde weitere Briketts draufgelegt. Das kostete schon ein paar Dutzend Likes.

Also lieber Finger weg von den Toten, beschloß er angesichts der vielen negativen Reaktionen.

 

Richard konnte sich auch gut vorstellen, daß Claudia anrufen würde, wenn das Buch erst mal raus war und ihr in die Hände fiel.

»Sag mal … meinst du mit Sammy etwa mich?«, würde sie fragen.

»Tja. Wer weiß das schon?«

»Ist doch eindeutig. Wir waren genau in der Zeit zusammen, die du schilderst. Und haben uns bei ’nem DOA-Konzert kennengelernt. Wie kannst du schreiben, ich hätte meinen Bruder umgebracht? Ich habe gar keinen Bruder.«

»Rate mal!«

»Wir waren auch nicht zusammen bei den Chaostagen. Und ich sehe ganz anders aus. Alles gelogen. Wie kannst du so was veröffentlichen, ohne mich zu fragen?«

»Du denkst, ein Autor sollte nie über Dinge schreiben, die er erlebt hat? Und wenn doch, dann exakt so, wie es geschehen ist? Und alle Leute fragen, die sich vielleicht wiedererkennen?«

»Ist mir doch egal. Du hast mich auf jeden Fall zu ’ner miesen Fickgeschichte gemacht!«

»Stimmt. Wir hatten keine guten Ficks. Du warst bei weitem nicht die tolle Frau, als die ich Sammy geschildert habe.«

Dann würde sie auflegen. Und mich für alle Zeiten hassen.

 

Und dann waren da noch die Gewinner. Ehemalige »Punker«, die wegen des drohenden Outings ihres 30 Jahre zurückliegenden Lederjackentragens schon jetzt einen Schweißausbruch nach dem anderen bekamen. Denen gefiel sicher nicht, daß Frau, Kinder, Arbeitgeber und CDU-Ortsverband vom einstigen Treiben Kenntnis erhalten könnten.

Aber solche Armleuchter waren eh meist nur dritte Liga, damals wie heute.

Daneben gab es aber noch ganz andere Kaliber. Richard dachte an Frösi, der einst ständig was von der ganz, ganz großen »Judenverschwörung« gefaselt hatte und gerne ein selbstbemaltes Hakenkreuz-Shirt trug. Das hatte er sicher längst verbrannt. Stattdessen posierte er nun im Maßanzug auf Hochglanzfotos und erfreute sich eines millionenschweren Unternehmens.

Oder Hasso. Der hatte jahrelang steinewerfend auf Demos die Sau rausgelassen und unermüdlich »Hatecore« gepredigt. Unterhalb der Abschaffung von Staat und Polizei als Minimalforderung ging bei ihm gar nichts. Jetzt betreute seine Consulting-Firma Unternehmen, »um morgen an der Spitze zu stehen«. Ein echter Gewinner, genauso wie der Bauchtreter Berger.

Allerdings hätten alle drei vehement abgestritten, die Seite gewechselt zu haben. »Wir hassen die beschissene Welt immer noch, nur jetzt eben anders«, würden sie sagen. »Wir lutschen aus den Idioten und Arschlöchern so viel Kohle raus wie möglich. Und füttern sie mit ihrem eigenen Dreck. Wir ficken das System!«

Was war davon zu halten? Das System merkte bei denen ja nicht, daß es gefickt wurde. Sondern freute sich über neue, erfolgreiche Mitspieler. Über Vorbilder für die Massen. Weil so verdeutlicht wurde, daß jeder eine Chance auf den ganz, ganz großen Erfolg hatte. Wenn man die Business-Regeln akzeptierte, durften auch ehemalige Systemgegner am Spieltisch Platz nehmen. Joschka Fischer hatte es vorgemacht.

Und dann war da Berger. Über den es so viel auszuplaudern gab, daß Richard ein ganzes Buch damit hätte füllen können. Seit ihrer Kindheit hing ihm Berger im Nacken, der hatte mittlerweile Kohle wie Heu. »Das ist deine letzte Chance«, sagte er jedes Mal, wenn er Richard ans Telefon bekam, um ihn zu irgendwelchem Mist zu überreden.

Richard hatte nicht die geringste Ahnung, was Berger antrieb. Der besaß doch alles, was es zu besitzen gab. Egal, das war nicht Richards Problem.

Was sein Buch anging, bereitete ihm Bergers Kohle allerdings Kopfzerbrechen. Er konnte jedem, der ihm in die Quere kam, eine ganze Armee Anwälte auf den Hals hetzen. Die Zeiten, in denen Berger selbst mit der Knarre herumfuchtelte, waren lange vorbei.

Trotz aller Treueschwüre mochten all die schönen Buch-Pläne also nach hinten losgehen, wenn die Elite der Punks von gestern ihre neugewonnene finanzielle Macht spielen ließ.

Man weiß ja nie, dachte Richard.

 

Einige Leute machten sich deshalb Sorgen um Richard.

»Hey, Alter, das ist gefährlich, was du mit deinem Buch vorhast. Besonders, wenn du alte Fotos mit reinnimmst. Das wird mächtig Staub aufwirbeln«, erinnerte ihn Thommy, sein narbengesichtiger, dickbrilliger Dauergast. Der war zwar 30 Jahre jünger als Richard, aber zusammen ließen sich die Biere geselliger zischen. In der Bude, auf Parkbänken oder bei Curry 36 gleich um die Ecke, wo sie jeden Mittwoch und Freitag zusammen eine Wurst verdrückten. Mit Bier, versteht sich!

Ansonsten hatte Thommy haarsträubende Geschichten ohne Ende auf Lager - etwa die, wie seine Mutter ihm das Gesicht mit einem Skalpell zerschnippelt hatte. Das ließ sich bestimmt irgendwann zu einem Bestseller verwursten. Zuhause, am Computer, nicht bei Curry 36.

Aber ganz egal, wie oft ihn Thommy warnte, Richard hatte keine Angst. Oder tat zumindest so: »Schutz der Privatsphäre, Recht am eigenen Bild und so, Copyright, ich weiß. Ist den meisten egal. Die freuen sich, wenigstens in ’nem Punk-Buch ein bißchen rumzugeistern. Ist besser als Punk-Friedhof.«

»Ja, den meisten! Aber was ist mit den Arschlöchern?«

Ein berechtigter Einwand. Die würden per Einstweiliger Verfügung unmißverständlich klarmachen, daß sie nun auf der Sonnenseite des Lebens angelangt waren. Und sich von einem geborenen Verlierer nicht in die Suppe spucken lassen. Von einem Hartz-IV-Messie, der sich in seiner zugemüllten Butze verzweifelt an der Rettung von Vergangenheit und Zukunft abtippte und sich ansonsten langsam ins Grab soff. Sie konnten’s Richard besorgen, mit allen Daumenschrauben, die ihnen zur Verfügung standen.

Und all die schönen, gedruckten Bücher würden im Reißwolf enden. Oder im Feuer – ein Schreckensszenario, das Thommy mehr als einmal genüßlich und in allen Details vor ihm ausgebreitet hatte. Angesichts dieser Vorstellung nahm Richard einen Schluck aus der Pulle. Und noch einen. Und noch einen.

 

Seit Jahren hatte Richard über diese Quadratur des Kreises nachgedacht: Wie konnte er ein ehrliches, authentisches Punk-Buch schreiben, das ohne rosa Brille auskam, niemandem auf den Schlips trat und garantiert keine Existenzen zerstörte? Eines, das keinem Selbstmordkommando gleichkam?

Am besten gar nicht, das war ihm längst klar. Oder höchstens ein ganz kurzes Ding mit ungefähr folgendem Text:

Richard Hertzfeld wuchs in einer Familie auf, in der sich alle gut verstanden. Die meisten Menschen, denen er im Laufe seines Lebens begegnete, waren freundlich und hilfsbereit. Den wenigen, die es nicht waren, ging Richard aus dem Weg. Er war lange mit einer Frau zusammen, deren Name hier ungenannt bleiben soll. Danach lernte er eine andere Frau kennen. Sie mochten sich und hatten eine schöne Zeit. Als es nicht mehr funktionierte, trennten sie sich in beiderseitigem Einvernehmen.

Richard führte ein geräuschloses Leben, er mochte weder Gewalt noch verbale Konkurrenzkämpfe, sondern suchte immer den Ausgleich. Jetzt freut er sich darauf, alt zu werden, um sich ganz seinen Hobbys zu widmen.

Perfekt! Wenn man davon absah, daß Richard noch lebte, die ideale Begräbnisrede. Keine Namen, keine Orte, kein Ärger, keine Geheimnisse! So geht das! Die Weltformel für einen Punk-Schreibratgeber. Und ansonsten eine lächerliche Vorstellung.

Ganz egal, wie er die Idee, ein Buch zu schreiben, drehte und wendete, es floß nur Gülle aus seinem Hirn. Sollte die ganze Bande von früher eben ihr Leben ohne lästige Rechtfertigungen weiterleben und eines Tages in Ruhe und Frieden sterben. Gerne mit einem Batzen Kohle auf der hohen Kante, in Ordnung.

Was die anderen machen, geht mir am Arsch vorbei, dachte Richard, öffnete ein weiteres Bier und leerte die Flasche in einem Zuge. Dann drückte er die Zigarette in einem Aschenbecher aus, der längst begonnen hatte, sich über den Schreibtisch auszubreiten. Warum kriege ich so eine weichgespülte Abtreibung nicht hin?

 

Also: Eine obergeile Punk-Bio ging nur als Selbstmordkommando, als Ultra-Schocker und Knaller, voll auf die Fresse, ohne Rücksichten! Danach Exil in Südamerika. Keine Heulnummer, bei der jeder Depp merkte, daß hinter Fritz Fucker kein anderer als Richard Hertzfeldt steckte. Niemand würde diesen Mist lesen wollen.

Nichts hielt Richard noch auf seinem Stuhl. Als SpongeBob auf Meth flehte er um die Gnade, ein lobotomierter Patrick zu sein, wenigstens für eine Viertelstunde. Wohin mit dem Brainfuck, der sich in seiner Birne eine Massenschlägerei liefert?

Und wieder das Fenster auf, diesmal, um mal alles rauszukotzen: »Ich weiß, daß meine Geschichte Dreck ist! Ich weiß, was ihr wollt: Sex, Suff, Blut, Hauereien mit Nazis und Bullen! Ihr wollt alle geficktwerden!«

Das reichte für heute. Ein Schritt zurück, das iPhone aus der Jackentasche, vor den Mund.

»Hey Siri, soll ich diesen Scheiß weiterschreiben?«

»Wenn ich könnte, würde ich jetzt rot werden.«

Nein, Siri war kein Punk. Und wie üblich keine Hilfe.

Ein neuer Gedanke kam um die Ecke spaziert, ganz harmlos pfeifend. Drei Sekunden später lag Richard auf den Brettern. Blutige Lippe, Nasenbruch, Kopfschmerzen. Zwar alles nur eingebildet, aber das reichte. Er warf das Handtuch. Weil ihm der Gedanke verklickert hatte, daß er ein Schwachkopf war. Einer, der den ganzen Tag in der Bude saß und tippte, soff und grübelte, während andere das Leben genossen – auf so eine Scheiß-Idee mußte man erst mal kommen! Daß ich mich hier mit großartigen Erkenntnissen, Erlebnissen und Hirngespinsten aufblähe - wen interessiert das?

Richard griff die fünf frisch getippten Seiten, zerriß sie. Die Fetzen landeten im Papierkorb. Anschließend löschte er die Datei. Schnauze voll.

Dann sprang er. Die Leute unten auf der Straße würden was zu erzählen haben. Beim Abendessen, während im Hintergrund der Fernseher lief.

Andere waren schneller, dank Twitter.

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