Nr. 71

Heimatfront

aus »Schlund«, 2018

Manchmal überkam mich diese bizzare und nicht zu erklärende Sehnsucht, wieder ein Kind zu sein. Wieder in den 60ern oder 70ern zu leben, in meiner zertrümmerten Familie.

Dabei war die »gute alte Zeit« nur ein versoffener Witz, so viel stand fest. Aber die damit zusammenhängende Hirnerweichung schien jedoch weitverbreitet zu sein. Wenn die Scheiße nur lange genug zurücklag, dann blühten bei vielen die Wachträume über eine Zeit, in der sie in Saft und Kraft standen und sich im Zentrum allen Seins wähnten. Ja, als man jung war, da konnte man die Nächte durchsaufen und war trotzdem am nächsten Tag fit!

Und wenn man bislang noch kein einziges Bier getrunken hatte?

Durfte ich überhaupt mitreden über Punk, das Leben und den Tod? War ich ein Feigling, weil ich anderen immer nur beim Saufen zugeschaut und mich nie selbst abgeschossen hatte? War es an der Zeit, mich meinem Dämon zu stellen?

Also auf zum Kiosk und ein kleines Bierexperiment starten, oder was?

 

In meiner Vorstellung schien es recht simpel, das Saufen zu lernen: Drei Flaschen Bier kaufen, die Pullen zuhause auf den Wohnzimmertisch, dann ein stummes Gespräch zwischen ihnen und mir. Eine Beziehung schaffen, eine Grundlage für lebenslange Zuneigung, mir vorstellen, wie großartig es wäre, das Bier in mich hineinzuschütten. Wie lecker!

Vergleichbar mit einer Zwangsheirat, bei der man mit ein bisschen gutem Willen der Liebe eine Chance geben musste, sodass sie erblühen konnte. Es half, sie oder ihn nackt zu sehen und auf die Kraft der Natur zu vertrauen. Streicheln, lecken, lüsterne Blicke. Dann – öffnen und rein damit! Den bitteren Geschmack ignorieren – das legte sich im Laufe der Zeit, wie jeder Kenner zu berichten wusste. Einfach weghämmern und die einsetzende Verwirrung genießen! Und täglich weiter üben, Neues ausprobieren, mit Schnaps, Wein und anderen, was die Alkoholregale bevölkerte!

Alles Stuss: Ich mochte ordentlich neben der Spur laufen und nur eine Handbreit von der Klapse entfernt durchs Leben taumeln. Aber ich war nicht verrückt genug, mit 56 Jahren herausfinden zu wollen, wie sich ein Vollrausch anfühlte. Es kümmerte mich nicht, ob professionelle Trinker mir einiges an Lebenserfahrung voraus hatten. Ich musste mich auf die Gegenwart konzentrieren und durfte meine Zeit nicht mit Saufstudien vergeuden – und auch nicht mit Wühlen im Familiendreck!

 

Und schon wieder eine dieser verfluchten Stimmen: »Du fei …«

»HALT’S MAUL!, unterbrach ich Biff.

»Was hast du gesagt?«, meldete sich Siri zu Wort.

»FICK DICH!«

»Ich wünschte, ich könnte mir die Ohren zuhalten.«

»Siri, wie komme ich hier raus?«

»Nach welcher Art Geschäft suchst du?«

Am liebsten hätte ich Siri in diesem Moment erwürgt. Aber sie hatte nicht nur keine Ohren, sondern auch keinen Hals.

Ein letzter Versuch: »Ich muss hier WEG!«

»Wo möchtest du gerne hin?«

»Nach Hause.«

»Ich suche nach der Wegbeschreibung. Ziel: Privatadresse … Ziel erreicht!«

Siri hatte recht. Bleiben, gehen, Hamburg, Wuppertal, Berlin, alles einerlei. Als Freigänger konnte ich den Bunker-Knast jederzeit verlassen, und genau das war das Problem.

Klar, dass mir jeder einen Vogel zeigte, wenn ich das Gespräch darüber suchte. »Du bunkerst dich nur selbst ein«, sagten sie. »Während draußen das pralle Leben wartet!«

Alles, was ich antworten konnte, hätte lächerlich geklungen, also schwieg ich. Gleichzeitig hegte ich den Verdacht, dass es Millionen Gefängnisse wie meines geben musste. Und die, die mich auslachten, mochten bald selbst in einer Zelle dahinvegetieren oder vom Trommelfeuer in Stücke gerissen werden. Als Opfer der täglichen Angriffe durch Facebook und Konsorten, als Ziele einer Invasion!

Die Stimmen in meinem Kopf bewiesen, dass sich der Feind nicht mehr außerhalb der Grenzen befand. Der Krieg fand längst an der Heimatfront statt, das Schlachtfeld waren unsere Hirne und Herzen. Nicht nur ich, wir alle sollten in den Knast und dort auf Handys und Tablets herumtippen, bis wir vermoderten.

Die Chancen standen schlecht, der Welt um mich herum den Ernst der Lage begreiflich zu machen. Aber so leicht wollte ich mich nicht geschlagen geben. Es musste ein Weg existieren, die unsichtbaren Mauern zwischen Drinnen und Draußen zu zertrümmern!

Ich zog ein Perry-Rhodan-Heft aus dem Regal. Ein ganz bestimmtes: Ausgabe fünfnullfünf, von William Voltz, aus den frühen 70ern. Das Titelbild zeigt einen Mann, nein, einen bloßen Kopf, gepflanzt auf eine technische Apparatur, in der Gewalt von Robotern. Sie ziehen und zerren an seinem Gesicht, als wäre es Gummi, gleich wird die Haut reißen und Blut sprudelt zwischen den Fleischfetzen empor.

Der Titel des Heftes: GEFANGEN IM SCHWARM! Er ist ein Terraner – und er will kein Sklave sein!

Worte, die mir auf den Leib geschrieben waren. Ein Cover, das mir schon als Teenie Schauer über den Rücken gejagt hatte. Dieser Mann auf dem Titelbild, gefoltert und gequält, das war ich! Es gab gute Gründe, eine Höllenangst vor allem zu haben, was als Nächstes geschehen mochte.

Und jeeeeetzt?

RRRÖÖÖMMMP! Neue Mails. Musste kurz umschalten.

Eine Sabine, die ich nicht kannte, schrieb mir: »Das wollte ich schon immer mit jemandem teilen, das ist so aufregend! Wirst du es dir ansehen?«

Beigefügt hatte sie zwei Fotos, auf denen angeblich sie selbst abgebildet war. Dessous, aufreizende Posen, gelöscht.

Der BAUR Versand bot mir ausgewählte T-Shirts um zwanzig Prozent reduziert an. Den Motiven nach zu urteilen, wussten sie rein gar nichts über mich. Weg damit.

Eine Mail aus Hannover lag im Postfach, vom Staatstheater. Sie wollten die Chaostage auf die Bühne bringen und vermuteten, bei mir an der richtigen Adresse zu sein.

Ich kotz im Strahl! Klasse Staat: Erst prügelte man uns windelweich – um Jahrzehnte später auf Verbrüderung für das passende Kulturevent zu machen! Gab es einen besseren Beweis als diesen, dass Punk ungefährlich geworden war? Von mir ganz zu schweigen.

Sie suchten Kontakt mit einem Zeitzeugen, um zu erfahren, wie wir als subversive Unruhestifter die Welt auf den Kopf gestellt hatten. Ein paar meiner ehemaligen Gefährten waren schon im Boot – ohne mich! Es reichte, dass ich bei der Goldenen Kamera zum Feind übergelaufen war, das musste ich nicht wiederholen. Erst recht nicht für eine Schauspieltruppe aus dem Staatstheater.

Ich erinnerte mich – Künstlertypen, die auf Provokation machen, hatte ich bereits in einem Song der Heiligen Scheine verwurstet, geklaut aus einem uralten Asterix-Comic. Da riefen sie von einer römischen Theaterbühne »Orgien! Orgien! Wir wollen Orgien!« ins Publikum … und dann hatte Obelix … RRRÖÖÖMMMP! Auf dem iPhone poppte eine Erinnerung auf: »AUSSENWELT-ALARM! SOFORTIGE FRONTBEGRADIGUNG!«.

Stimmt. Ich erwartete Besuch. Das Chaos im Kopf mußte ein Ende haben, ich zog die erste LP von Blut + Eisen aus dem Regal.

Als sich die Scheibe auf dem Plattenteller zu drehen begann, schob ich die Lautstärkeregler auf Vollbrett und ließ den Tonarm sinken. »SCHREI DOCH!«, brach der erste Song los. Dann marschierte ich mit martialischem Kriegsgeschrei an die Front. Hörte aber eh keiner, weil der musikalische Blitzkrieg alles übertönte und niemand außer mir im Haus war. Ausgespuckt von überall verteilten WLAN-Boxen, dröhnte der Sound durch den gesamten Bunker.

Wie laut muss man eigentlich Musik hören, um an nichts mehr zu denken?

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