Nr. 45

Nie wieder Punk

aus »Schlund«, 2018

Ich ging in die Küche, nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es am Wasserhahn; ich soff von früh bis spät, die ganze Woche – nur eben keinen Alkohol. An manchen Tagen bedauerte ich das; mir fehlte eine Entschuldigung, nie konnte ich sagen: »Tut mir leid wegen gestern, ich war sturzbesoffen!«

Eine hübsche Selbstzerstörung hatte eben auch ihre Vorteile, besonders, wenn man sie in aller Öffentlichkeit zelebrierte – so lautete ein elementarer Punk-Glaubenssatz!

Wo war eigentlich DESTROY geblieben? Mit Siri über Punk zu reden, war sinnlos; also buddelte ich eine Weile im Kleiderschrank, bis ich fündig wurde.

Ich zog das Shirt auf einen Kleiderbügel und klemmte es in Augenhöhe ans Regal.

»Hey DESTROY!«, fragte ich. »Wie geht’s denn so?«

»DESTROY!«, kam es zurück.

Die Reliquie der Punk-Religion war mein ganzer Stolz. Ein Vivienne-Westwood-Design aus den späten 70ern, gefertigt aus Mull-Stoff und mit Bondage-Elementen bestückt – Johnny Rotten von den Sex Pistols hatte eins davon gelegentlich getragen.

DESTROY war in einem besseren Zustand als ich; der dünne, empfindliche Mullstoff hätte meinen Bauchumfang nicht überlebt. Bei eBay ließ sich dafür ein Batzen Geld einsacken – angeblich rund 1500 Euro!

Im Fernseher plapperte ein Nachrichtensprecher mit öliger Wichtigmiene über die morgigen Feierlichkeiten in Washington; es war ein beruhigendes Gefühl, dass der labernde Lackel auf einer Einbahnstraße unterwegs war. Noch konnten die Fernsehfritzen nicht in meinen Bunker schauen, um Livebilder daraus über den Sender zu jagen; sonst würden Mr. Wichtig und Kollegen zur Jagd auf das Böse schlechthin blasen – auf mich, den NAZI!

Man hätte mich in diese Schublade gepackt, weil der Fetzen an meinem Regal einen expliziten Aufdruck trug: ein unübersehbares Hakenkreuz über die volle Brustfläche, kombiniert mit einem Bild der Queen und einem umgedrehten Kruzifix. Embleme der Welt, in der wir lebten und die wir als Punks ZERSTÖREN wollten. Weshalb das Shirt von einem großen, fetten DESTROY-Schriftzug gekrönt war und damit eine eindeutige Aussage machte.

Eher winzig hingegen das Glaubensbekenntnis aus »Anarchy In The UK«, dem bekanntesten Song der Pistols: »I am an anarchist, I am an antichrist, I don’t know what I want, but I know how to get it« – es konnte ja nicht alles großflächig und markant nach Aufmerksamkeit schreien, dafür fehlte der Platz.

»Wie zeitlos!«, musste ich gegen meinen Willen feststellen. »Soll ich dich verkaufen?«

»DESTROY!«, kam es zurück.

»Aha. Wie viel ist drei mal sieben?«

»DESTROY!«

So war das mit dem Punk. Auf alle Fragen der Welt gab es nur eine Antwort! DESTROY – für immer und ewig! Bis ich an jenem Abend im Februar 2004 Teil der Maschine wurde. Seitdem gab es kein Vor und kein Zurück mehr, ich hatte die Orientierung verloren.

ALLES KAPUTTMACHEN schien die einzig passende Reaktion auf meinen Absturz zu sein. Und viel verlockender, als mich weiter im Selbstmitleid zu suhlen.

Punk ist meine letzte Hoffnung!

Angesichts dieser Gedanken musste ich lachen – »letzte Hoffnung«, von wegen! In Wahrheit klebte Punk wie Kacke an meinem Sack. An allem, was ich tat. Immer wieder Punk, Punk, Punk! Besonders wenn ich hoch und heilig schwor: NIE WIEDER PUNK!

Wie war das doch? »Denken Sie jetzt nicht an einen rosa Elefanten!« Egal wie oft ich die Spültaste drückte, der Schiss kam wieder hoch. Obwohl es tausendmal der Zeitgeist von vorgestern war.

Seit Jahren stocherte ich im Nebel herum. Ich rannte einer Idee hinterher, die nicht zu fassen war. Punk war mein Fundament und zugleich tonnenschwerer Ballast. Die Sex Pistols und alles, was danach geschehen war, durchdrangen noch immer mein Leben, obwohl meine Pubertät 40 Jahre zurücklag und ich nach dem Ende der Heiligen Scheine gedacht hatte, einen finalen Haken machen zu können.

Wie konnte ich die ewige Rückschau in eine Expedition jenseits des Horizonts verwandeln? Mit Vernunft und einer abgefuckten Erwachsenenhaltung war nichts zu reißen, so viel war sicher: Wenn ich bei »Anarchy In The UK« den Gesang wegdachte, erkannte ich lahmen, vorsintflutlichen Rumpel-Rock; auf diesem Monument der Steinzeit randalierte jedoch eine nicht zu ignorierende, hysterische Stimme und schlug alles in Stücke. Wie ein Betonklotz, auf dem ein Irrer tanzt. Nein, nicht Johnny Rotten. Der Irre war ich. »The problem is YOU, what you’re gonna do?«

Hört das jemals auf?, fragte ich mich. Würde ich in 30 Jahren mit Krückstock oder Rollator durch die Gegend wackeln und von alten Punkzeiten schwadronieren? Im Stil von »Opa hatte Stalingrad, wir die Chaostage«?

Mein Stalingrad nahm kein Ende, ohne die erhofften Wunderwaffen würde ich bald mit erhobenen Armen aus dem Bunker marschieren. Weil ich seit der Trennung von Barbara vor sechs Jahren daran scheiterte, einen neuen Anfang zu finden – und ebenso an dem Buch, das ich schreiben wollte und von dem ich gerne erzählte.

Damals – es scheint mir Jahrmillionen her, vor der Vernichtung der Dinosaurier durch einen Asteroiden! – war ich davon überzeugt, mit der Geburt des Punk sei eine Armee aus Godzilla, King Kong und sämtlichen Superhelden und -schurken des Universums in mein Leben einmarschiert und die lästigen Fragen von vorgestern Geschichte. Wir waren Tank Girl und Mad Max, die Türken von morgen, die Zukunft und zugleich bar jeder Chance auf diese Zukunft. Wir wollten anders vögeln und tanzen, dem Tod und auch dem Leben ins Gesicht rotzen. Unsere Gewalt sollte überzeichnet und lächerlich erscheinen, wie aus Comicheften und schlechten Horrorfilmen, unsere Freiheit so grobschlächtig, dass niemand sie missbrauchen konnte. Nicht die Kulturmaschinerie und auch nicht Politik jedweder Art.

Wir hatten den Gordischen Knoten durchschlagen und gaben uns ewigem Rausch hin. Ähnelten Stars, die in Stadien vor Zehntausenden spielen, um Jahre später festzustellen, dass sie nur noch als Witzfiguren ihr Dasein fristen. Oder auf dem Elternabend den nächsten Schulflohmarkt organisieren.

Der Theaterdonner unserer Jugend, die Aufbruchstimmung, die Entschlossenheit, anders zu sein – alles Selbstbetrug! Eine Zeit, in der es für eine Weile von Bedeutung war, ob jemand »Punk« oder »Skinhead« war – oder »Waver«, »Hippie«, »Psycho«, »Ted«, »Popper«. Und doch waren wir lediglich in Banden organisierte Gestörte und Selbstmörder, die mit dem gewagten und erfinderischen Punk von ’76 und ’77 wenig anfangen konnten. Stattdessen entwickelten wir wie ein Indianerstamm Riten und Traditionen, die noch Jahrzehnte später bis zum Erbrechen nachgespielt wurden.

Die Erinnerung daran schien so unwirklich, künstlich und bizarr, dass eine Schlussfolgerung nahe lag:

Es ist immer noch 1975, unseren Tanz auf dem Vulkan hat’s nie gegeben! Alles eine Fata Morgana, ein Furz der Geschichte! Wir haben uns Punk nur eingebildet!

Ich vergewisserte mich, dass auf meinem Handy das Jahr 2017 angezeigt wurde. Die Zukunft. Ein dystopischer Film, in dem es Facebook, Botox und sicher bald Kopfverpflanzungen gab. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es möglich war, 30 Milliarden Songs per Apple Music oder Spotify direkt ins Gehirn zu streamen. Aber nur in eine Hirnhälfte – die andere würden Amazon Prime, Netflix und Konsorten für ihre Filme und Serien beanspruchen!

Nicht zum ersten Mal beschlich mich das Gefühl, eine Statistenrolle in einer geträumten Parallelwelt zu spielen, deren Drehbuch ein unbekannter Herrscher über Raum und Zeit geschrieben hatte. War das Leben echt, in dem ich dahinvegetierte?

Real ist aufm Platz, Facebook ist real!, redete ich mir ein. Eigentlich hätte ich in der Fußgängerzone Volksreden darüber halten müssen, wie das Bombardement aus Internet und Fernsehen unser Leben zerschredderte. Ohne das Wort »Punk« auch nur einmal zu erwähnen. Konnte doch echt keiner mehr hören, diese Worthülse!

Und dann, wenn der Einkaufsmob in der City am Jungfernstieg um mich herumstand und sich kopfschüttelnd fragte, was das jetzt wieder für ein Irrer war … ja, was dann? Stinkefinger? Oder draufhauen?

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