Nr. 37

Reichsparteitag in Ruinen

aus »Schlund«, 2018

Ich posierte vorm Spiegel, stemmte die Hände in die Hüften und zog den Bauch ein. Zeit für meine Lieblingsrolle. Es galt, Erstaunliches zu vollbringen; ohne Ziel, ohne Sinn, Hauptsache, es reichte für die Geschichtsschreibung.

»Nicht lange fackeln!«, rief ich mir zu. »Rücken gerade, Arschbacken zusammen, den Belagerungsring der feindlichen Horden sprengen – der Kampf geht weiter! Bis zur letzten Patrone! Parole für heute, wie immer: RAUS AUS DEM BUNKER, RAN AN DIE FRONT!«

Genau: Volles Vertrauen in die ultimative Wunderwaffe, die ein Ingenieur in meinem Hinterkopf konstruierte, die den Krieg entschied!

»Eva, ab sofort wird zurückgeschossen!«, fuhr ich fort und versuchte, meiner Stimme einen scharfen und entschiedenen Klang zu verleihen. Das Volksgemurmel aus dem Wohnzimmer deutete ich als Zustimmung.

Dabei hatte ich gar keine Eva. Ich war ein Schwätzer, ein Nerd und Spinner, den niemand ernstnahm, wenn er seine Entdeckungen der Welt offenbarte. Stattdessen tratschten sie hinter vorgehaltener Hand über mich. Über den alten Punk, der seine Bude mit Comics, Perry-Rhodan-Heften, Büchern, Platten und Punk-Devotionalien vollgemüllt hatte und die angeblich Verschwörungstheoretikern als Treffpunkt diente. Was an sich keine schlechte Idee war: mein Führerhauptquartier im Kampf um Das Wahre Leben!

Und jetzt? Gedanken ordnen, aaaaatmen, eins, zwei, drei, vier. He … was soll das? Meine Maushand entwickelte ein Eigenleben, klick-klick-klick! Spiegel Online. Welt. BILD. Zeit. Süddeutsche. Sie übernahmen die Kontrolle! Die Hand war scharf auf Erschütterungen aller Art und wollte nichts verpassen. Irgendetwas musste passiert sein!

Aber nix los im Internet. Seit heute früh ein dutzend Mal die gleichen Nachrichten verschlungen, mit unterschiedlicher Würze und doch überall derselbe fade Geschmack. Neues? Fehlanzeige! Entweder die Selbstmordattentäter, Despoten und Triebtäter schliefen noch – oder die Journalisten!

Welt, dreh dich schneller!, tobte es in mir. Lass krachen, Amigo! Warum gab es den Hähnchenbrater »Los Pollos Hermanos« in Breaking Bad, aber nicht hier im Block? Ich forderte Pogo mit der Drogenmafia! Oder eine Nazi-Kneipe vor der Tür, mit Aufmärschen dafür und dagegen! Chaostage wären auch ok gewesen, solange niemand erwartete, dass ich deshalb den Bunker verließ. Ein bequemer Fensterplatz reichte mir.

Wenigstens der DHL-Bote könnte klingeln! Ich war nicht anspruchsvoll.

Ab ins Wohnzimmer zur Glotze, aber auch dort passierte nichts. Keine EILMELDUNG, sondern gespielte Aufregung um die Frage WAS WUSSTE WINTERKORN? Interessierte das wen? Mich jedenfalls nicht.

Ich verfolgte eine Weile das Treiben der Anzugträger und Machtmenschen. Betrachtete auf dem Flachbildfernseher Wesen, für deren Existenz ich meine Hand nicht ins Feuer gelegt hätte. Und niemand war da, mit dem ich den Ernst der Lage beraten konnte; mein Mitbewohner war seit sieben aus dem Haus und ging längst irgendwo am Flughafen seiner Arbeit nach.

Ich riss mich zusammen und kehrte ins Büro zurück. Schluss mit den Ausflüchten und Ablenkungen, ich musste mich fokussieren, es stand Essentielles auf dem Zettel: AUSBRUCH hieß der erste und wichtigste Punkt auf der Tagesordnung! Der SCHLACHTPLAN! Tunnel buddeln, Wärter austricksen, Klamotten wechseln! Im Vergleich dazu war alles andere nebensächlich, weshalb ich meinen Job auf den Nachmittag verschoben hatte.

Ohne Ziel würde der Ausbruch scheitern, so viel war klar. Ich musste etwas wollen. Wollen. Trommelte mit den Fingern eine Weile auf dem Schreibtisch herum, begann an den Fingernägeln herumzunagen. Weil ich genau jetzt eine Idee brauchte, mit der ich das Spiel herumreißen konnte! Jeder Vorschlag war willkommen, jeder hingeworfene Knochen.

So sehr ich mir auch die Birne zermarterte, ich hatte nicht den Hauch einer Idee. Nur abgegessene Misserfolgsrezepte. Ich war längst ein Experte in Ausbrüchen, die garantiert fehlschlugen.

Ok, dann eben mit der Brechstange: 30 Sekunden später stand ich nach einen erneuten Sprint ins Wohnzimmer wieder vor dem Schreibtisch, Stahlhelm aufgesetzt, mit erhobener Axt. Bereit zuzuschlagen. Der Helm stammte aus Beständen der Roten Armee, bei eBay abgegriffen. Das Beil besaß ich schon seit über 30 Jahren, ich hatte ihm den Namen Anwalt gegeben.

Anwalt hatte einen festen Platz an meinem Hochbett, wo er griffbereit auf seinen Einsatz wartete. Der Gedanke, in schwierigen Situationen mit dem Anwalt drohen zu können, hatte mir gefallen.

Weil sich die Ideenlosigkeit nicht per Anwalt in die Flucht schlagen ließ und mich die im Wohnzimmer ausgetragene Handball-WM nicht interessierte, legte ich Axt und Russenhelm beiseite und wandte mich wieder dem Spektakel zu, das im Internet bereitstand: Würde mich die Muse bei Spiegel Online küssen? Mit Fassbomben? Giftgas? Erdogan? Donald Trump? NEIN! AUS! Konzentration! Durchhalten, Karl! LOS, BLITZ, SCHLAG EIN! DIE UHR LÄUFT!

Ohne Vorwarnung blies mir der faulige Atem des Internets aus einer anderen Richtung ins Gesicht. Eine unbezwingbare Kraft trieb mich zu Facebook. Widerstand war zwecklos. MUSS-DA-HIN!

Ganze Hundertschaften ehemaliger Kumpels und Weggefährten wohnten dort, so auch ich. Weil ich nicht einsam im Bunker verrotten wollte. Punkrock hatte bei Facebook ein Reservat gefunden, und Zuckerberg diktierte den rebellischen Indianern von einst die Spielregeln. Kein Platz für Ausbrüche. Eher für Einbrüche. Meiner Konzentration.

Hör auf zu lachen, Berger! Ich hatte nicht vergessen, worüber das blitzgescheite Scheusal bereits vor Jahren doziert hatte: »Ohne Facebook wirst du zum sozialen Paria! Die Leute tauschen sich da aus, alle Freunde und Bekannte sind mit an Bord, keiner will von gestern sein; wer bei Facebook nicht mitmacht, sitzt bald einsam als Waldschrat in einer Holzhütte.«

Ok, gewonnen! Hände an die Hosennaht und prüfen, was sich in den letzten Stunden an der Front getan hatte: Dreizehn neue Kommentare, meine Follower hofften, dass Karl Nagel öffentlich die Hose runterließ und auf die Tastatur onanierte, als Beweis, dass er nicht gestorben war.

Unangenehmer waren die Giftspritzer, die sich Anerkennung verdienen wollten, indem sie mir vor die Tür schissen. Besonders dann, wenn ich bei Facebook über Facebook abkotzte – den Guten Diktator. Damit machte man sich keine Freunde.

Ich löschte ein Arschloch. »Deinen Dreck will hier niemand lesen, alter Mann! Leg’ dich in die Kiste!«, hatte da gestanden. »Als Sänger der Heiligen Scheine warst du ein geiler Typ. Aber jetzt HALT EINFACH DIE FRESSE und jammere uns nicht die Ohren voll!«

Das war der Ton, der in Zeiten wie diesen vorherrschte. Früher gab es die SS, in der digitalen Gegenwart räumten Hater hinter der Front auf; die Freude am Tritt in die Eingeweide wollte nicht aussterben.

Gut, hielt ich eben die Fresse. Lieber widmete ich mich eh den Profilen der Weiber, die ihre Spuren auf meiner Seite hinterlassen hatten. Facebook war das Tinder für Arme, ohne die Möglichkeit, nach links oder rechts zu wischen. Nur Wichsen ging.

Aber nicht an diesem Tag. Da funkte nichts. Keine Erektion aus der gähnenden Leere, und erst recht keine Gesichter, die es mit meinen Phantasien aufnehmen konnten. Noch nicht mal mit meiner Ex.

Ich trank einen Schluck Wasser aus der Flasche.

»Hey Siri, was habe ich mit Barbara falsch gemacht?«

»Ich finde dich cool.«

Dass Siri mein Elend nutzte, mich vollzuschleimen, gab mir den Rest. In diesem Moment bedauerte ich zum ersten Mal aufrichtig, das Lügengebäude nicht in die Luft gejagt zu haben. Damals, bei der Goldenen KameraDAS wäre ein Ausbruch gewesen! Dann säße ich jetzt zwar ebenfalls hinter Gittern, aber immerhin echten! Die Kuh wäre vom Eis, mein Statement klar. Vorbei das lächerliche Anrennen gegen unsichtbare Mauern. Kein Internet mehr, kein Telefon, kein Siri, nur herrliche Ruhe.

»Du feige Sau!«, brüllte mir Biff Tannen aus Zukunft oder Vergangenheit auf einmal ins Hirn.

Das leere Wasserglas neben dem Monitor verwandelte sich unvermittelt in eine Cruise Missile für HB-Männchen und zersplitterte an der Wand. »NIEMAND NENNT MICH FEIGE SAU!«, kreischte ich und tänzelte wie ein Wrestler auf Adrenalinzäpfchen durchs Büro. Insgeheim hoffte ich, dass Doc Brown endlich auftauchte und mich mit dem Delorian aus dem Treibsand zog.

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