Nr. 73

Flucht vor dem Wicküler-Regime

aus »Schlund«, 2018

Meine 60er Jahre bestehen aus Kneipen, Zigaretten und Bier. Das magische Getränk. Wenn ich eine Bierflasche auf den Tisch stelle und sie eine Weile anschaue, dann weiß ich, dass da nicht nur eine Flasche steht. Die sie umgebende teuflische Aura wahrzunehmen, das ist mein Privileg. Giftige Schlieren greifen nach mir, sagen: Wo du auch hingehst, ich bin überall!

Ich könnte die Flasche gründlich ausspülen und desinfizieren und mit meinem Lieblingsgetränk füllen – ich würd’s nicht trinken, um nichts auf der Welt! Eine Flasche, die als Bierflasche daherkommt, ist kontaminiert und verseucht mit den übelsten Erregern, die Alpha Centauri zu bieten hat. Durch nichts zu reinigen. Auch nicht durch Zaubersprüche aus dem »Herrn der Ringe«. Setz’ mir ’ne Bierpulle an den Hals – und ich werd’ zum Hulk!

Nichts ekelt mich mehr an als eine Flasche Bier – speziell die braune 0,5-Liter Glasflasche! Der Klassiker. Wenn ich mit geschlossenen Augen ihre Form abtaste, kriechen die Leichen der Vergangenheit aus ihren Gräbern. Besonders eine Leiche. Unrasiert, mit gelben Fingern und Wicküler-Fahne. Und ich weiß nicht mehr, ob ich kotzen, heulen oder alles kaputtschlagen soll.

 

Ich war der Laufbursche meines Vaters.

»Peter, hol ’ne Flasche Bier!«

Und schon marschierte ich in die Küche! Bloß fix die Pulle raus aus dem Kühlschrank und ab damit ins Wohnzimmer, hinein in Papas ausgestreckte Hände! Der fackelte nicht lange: Zosch, mit dem Flaschenöffner den Kronkorken runter und das kühle Nass rein in die Kehle! Jeder Schluck begleitet von einem starren, hypnotisierten Blick auf die Flasche.

Bei Biernotstand musste ich für Nachschub sorgen. Aus Pommesbude, Kneipe oder von Edeka.

»Bring ’ne Packung HB mit! Und nicht vergessen, die Leeren mitnehmen!«

Scheiße, da hatte ich noch weniger Lust drauf!

Mit Spitzfingern die ausgetrunkenen Pullen in die Plastiktüte hinein, schön aufrecht nebeneinander, damit ja kein Rest auslief. Allein die Vorstellung war bäh! Dann schnell mit der bollernden Tasche zum Laden oder in die Kneipe. Das Leergut auf den Tresen, die Finger, doch nass geworden, an der Hose abgewischt. Das bedeutete Stinkehände, Mist!

»Zwei kalte Flaschen Wicküler Export und eine Packung HB!«, plärrte ich mein Sprüchlein. Oder es ging ohne und der Ladeninhaber grinste mich vielsagend an: »Wie immer?«

Dann nickte ich nur.

Und ab nach Hause.

War das Bier nicht kalt genug, kam es für eine halbe Stunde unter den laufenden Wasserhahn. Während sich mein Vater dauernd mit der Zunge über die Lippen fuhr.

Ok, ich bekam ab und zu zwanzig Pfennig vom Restgeld, aber diese »Bezahlung« ließen mir Bier und Zigaretten nicht sympathischer erscheinen.

Glasiger Blick, Bartstoppeln, maskenhaftes Lächeln und Bier. So habe ich meinen Vater in Erinnerung.

»Ihr seid das Liebste, das ich habe!«

Dann eine Umarmung, in meiner Nase der Mix aus HB und Wicküler, Luft anhalten, Augen zu.

Wie komme ich hier raus?

 

Die einzige Möglichkeit, dem Wicküler-Regime zu entfliehen, war meine Fix-und-Foxi-Sammlung. Die beiden Füchse und der Maulwurf Pauli bezogen zwar ständig Dresche von Verwandten, Polizisten und anderen Erwachsenen mit Erziehungsanspruch, dennoch starteten sie in jedem Heft gutgelaunt in neue Abenteuer. So musste das gehen!

Lösungen, wie man sich als Kind im Leben behaupten konnte, wurden dort auch geboten. Etwa in den Susi-Anzeigen für Spielzeugwaffen. In einer sah ich zwei Kinder in meinem Alter – ein überlegen lächelnder Junge mit rotem Pulli und erhobener Pistole, daneben ein Mädchen in Gelb, mit Zöpfen und zugekniffenem Checker-Auge. Mit der Hand macht sie ein Ok-Zeichen, lacht und sagt: DAS IST EIN SUPER-JUNGE! MIT IHM AN MEINER SEITE BIN ICH SICHER UND HAB VOR NICHTS MEHR ANGST! DENN ER IST STARK, MUTIG, UNERSCHROCKEN UND VOR ALLEN: ER HAT IMMER EINEN REVOLVER!

Eines Tages bewies mein Vater, dass er ein echter Kerl war. Er öffnete eine Schublade der Wohnzimmer-Schrankwand, griff hinein und hielt plötzlich eine Pistole in der Hand. »Wenn die Mama sich scheiden lässt, erschieße ich sie damit, dann Anne-Marie, dann dich«, sagte er. »Zuletzt puste ich mich selbst weg. Ist ganz sicher. Pass auf …« Und steckte den Pistolenlauf in den Mund. So wie es Hans-Jürgen Rösner, der Geiselgangster von Gladbeck, Jahrzehnte später wissbegierigen Fernsehzuschauern demonstrierte.

Der Revolver entpuppte sich als Gaspistole. Was nichts daran änderte, dass die Ehe meiner Eltern zwischen Kneipe und Bierflasche zermalmt wurde.

 

Und wieder einmal stand ein Botengang mit Bier und Zigaretten an, Papas Leibgericht musste her, unser täglich Brot gib uns heute. »Sind so kleine Biere, sind so schnell dahin«, wie es bei Daily Terror 13 Jahre später so treffend hieß.

»Aber es geht wirklich nicht!«, bettelte ich.

Meine Hose hatte beim Spielen was abbekommen. Sie rutschte bei jedem Schritt, weil ein Knopf fehlte und der Reißverschluss kaputt war.

»ABMARSCH, LOS!«, brüllte mein Vater und schob mich in die Küche, wo das Leergut gebunkert war.

Es half kein Jammern und kein Weinen, ich musste los.

Also die Flaschen wie gehabt vorsichtig in die Tüte, damit ich nicht mit Bierresten in Berührung kam, und ab zur Pommesbude. In der einen Hand die schwere Tüte, die andere den Hosenbund umklammernd. Die Vorstellung, die Hose könnte meinen Fingern entgleiten, jagte mir eine Heidenangst ein. Ich stünde auf der Straße in Unterhose da! Und alle würden mich auslachen!

Der Höllenritt zu Hähnchen Helmig plus Rückweg dauerte höchstens eine Viertelstunde – ich empfand ihn so lang wie eine Schwebebahnfahrt nach Südafrika. Und schwor, nie so zu werden wie mein Vater und niemals Bier zu trinken! Unverrückbar, für ewig.

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